Das dritte Licht by Claire Keegan

Das dritte Licht by Claire Keegan

Autor:Claire Keegan [Keegan, Claire]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Steidl Verlag
veröffentlicht: 2023-02-07T00:00:00+00:00


6

Nach einer Woche Regen, an einem Donnerstag, trifft der Brief ein. Er ist nicht so sehr eine Überraschung als ein Schock. Die Vorzeichen habe ich bereits gesehen: das Shampoo gegen Kopfläuse in der Apotheke, die feinzahnigen Kämme. In der Geschenkgalerie liegen hohe Stapel Schönschreibhefte, verschiedenfarbige Kugelschreiber, Lineale und Reißzeug aus, ganz vorn im Haushaltswarenladen, wo die Frauen sie gleich sehen können, Brotdosen, Ranzen und Hurlingstöcke.

Wir kommen nach Hause und essen Suppe, brechen unser Brot, tunken es ein und schlürfen ein wenig, jetzt wo wir uns kennen. Hinterher folge ich Kinsella in den Heuschuppen, wo er mir das Versprechen abnimmt, nicht hinzuschauen, solange er schweißt. Ich merke, dass ich ihm heute die ganze Zeit hinterherlaufe, aber ich kann nicht anders. Die Post müsste längst gekommen sein, aber er schlägt mir nicht vor, sie zu holen – erst am Abend, als die Kühe gemolken sind und der Melkstand ausgefegt und geschrubbt ist.

»Ich glaube, es ist Zeit«, sagt er und spritzt sich mit dem Schlauch die Stiefel ab.

Ich mache mich bereit und benutze die Türstufe als Startblock. Kinsella sieht auf seine Uhr und durchschneidet mit der Hand die Luft. Ich renne los, über den Hof, die Auffahrt hinunter, um die scharfe Biegung, öffne den Briefkasten, schnappe mir die Briefe und jage zurück zur Türstufe. Ich weiß, dass meine Zeit nicht so gut war wie gestern.

»Neunzehn Sekunden schneller als bei deinem ersten Lauf«, sagt Kinsella. »Und eine Verbesserung um zwei Sekunden gegenüber gestern, trotz des schweren Bodens. Schnell wie der Wind bist du.«

Er nimmt die Briefe und geht sie durch, heute aber schweigt er, statt wie sonst darüber zu scherzen, was jeder von ihnen enthalten mag.

»Ist der von Mammy?«

»Weißt du«, sagt er, »ich denke schon.«

»Muss ich nach Hause?«

»Nun, er ist an Edna adressiert. Warum geben wir ihr nicht den Brief, damit sie ihn lesen kann?«

Wir gehen ins Wohnzimmer, wo sie die Füße hochgelegt hat und in einem Buch mit Strickmustern blättert. Auf dem Kaminrost brennt ein Kohlefeuer, und kleine schwarze Rauchfahnen wehen ins Zimmer.

»Der Kamin, wir haben ihn nicht kehren lassen, John. Im Schornstein ist bestimmt ein Krähennest.«

Kinsella lässt den Brief in ihren Schoß gleiten, auf ihre Lektüre. Sie setzt sich auf, öffnet den Brief und liest ihn. Es ist nur ein kleines Blatt, beidseitig beschrieben. Sie lässt den Brief sinken, dann nimmt sie ihn wieder auf und liest ihn abermals.

»Nun«, sagt sie, »du hast ein neues Brüderchen. 4140 Gramm.«

»Wie schön«, sage ich.

»Sei nicht so«, schimpft Kinsella.

»Wie?«, frage ich.

»Und am Montag fängt die Schule an«, sagt sie. »Deine Mutter hat uns gebeten, dich am Wochenende zurückzubringen, damit sie dich einkleiden kann und all das.«

»Dann muss ich also zurück?«

»Ja«, sagt sie. »Aber das hast du doch gewusst, oder?«

Ich nicke und betrachte den Brief.

»Du kannst doch nicht für immer bei uns alten Käuzen bleiben.«

Ich stehe da, starre ins Feuer und versuche, nicht zu weinen. Es ist lange her, dass ich das getan habe, und da ich es tue, fällt mir ein, dass es das Schlimmste ist, was man tun kann. Ich fühle mehr, dass Kinsella aus dem Zimmer geht, als dass ich es höre.



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